Interview mit Karim Aïnouz
Was war der Anlass für dieses Projekt?
2010 wurden die Landebahnen des ehemaligen Flughafen Tempelhof als öffentlicher Park zugänglich gemacht. Die Hangars wurden für große Veranstaltungen genutzt. Weil ich in der Nähe wohne, gehe ich sehr oft in diesen Park. Mit der Ankunft der Flüchtlinge 2015 veränderten sich die alten Hangars grundlegend. Sie wurden zu Notunterkünften. Ich war da, als die ersten Menschen ankamen und hatte das Bedürfnis, diese Ereignisse zu dokumentieren, mich zu engagieren. Ich wollte diese Erfahrung festhalten: Menschen, die vor dem Krieg fliehen und in einem alten deutschen Flughafen untergebracht werden. Ich dachte, in zehn Jahren wird es wichtig sein, dass es eine Aufzeichnung dieser Erfahrung gibt.
Wie sind Sie an die Filmarbeiten herangegangen?
Ich hatte das Gefühl, dass ich nicht gleich mit dem Filmen anfangen konnte, weil diese Menschen gerade erst in Tempelhof angekommen und alle entweder vor Krieg oder Elend geflohen waren. Darum habe ich mich dazu entschlossen, regelmäßig dort hinzugehen: über vier Monate jeweils zwei- bis dreimal. Einfach um mich umzuschauen, um Menschen und SozialarbeiterInnen zu treffen und einen Kontakt zu ihnen aufzubauen, ohne dass gleich eine Kamera im Spiel war. Ich muss zugeben, dass das mein erster Dokumentarfilm war, in dem ich also das Alltagsleben von Menschen festhalten wollte. Der Film wäre nicht zustande gekommen, wenn wir als klassische Reportagecrew angekommen wären und einfach die Kameras eingeschaltet hätten. Jeder Film benötigt Vertrauen. Aber ein Dokumentarfilm wie dieser erfordert noch viel mehr Vertrauen.
Wie haben Sie Ihre Protagonisten gefunden?
Ich wusste natürlich nicht, wie lange die Menschen, die ich in Tempelhof traf, bleiben würden. Sie konnten innerhalb der nächsten zwei Wochen eine Wohnung bekommen, zwei Jahre dort leben oder im nächsten Monat zurück in ihr Herkunftsland geschickt werden. Deshalb habe ich immer gedacht, dass der Film nur Sinn machen würde, wenn er über mindestens ein Jahr gedreht würde. Zuerst war ich vor allem in Kontakt mit SozialarbeiterInnnen, um zu verstehen, wie sie arbeiten.
Wie haben sich Ihre Einstellung und Ihr Interesse während dieser Zeit entwickelt?
Je mehr Zeit ich in Tempelhof verbracht habe, desto näher bin ich den Menschen, die in den Hangars leben, gekommen. Mir ist auch klar geworden, dass ich arabische Männer anders darstellen wollte, als sie normalerweise in den Mainstream-Medien gezeigt werden – insbesondere in den letzten zwei Jahren. Daraus ergab sich auch die Wahl der zwei Protagonisten Ibrahim und Qutaiba, die wir begleiten. Das sind Menschen, die versuchen, ihr Leben wieder aufzubauen und ich dachte, dass es wirklich wichtig war, sie zu zeigen, wie sie sind und nicht so verzerrt, wie sie oft in den westlichen Mainstream-Medien dargestellt werden.
Wann haben Sie entschieden, Ibrahim zum Erzähler des Filmes werden zu lassen?
Das Schöne am Dokumentarfilm ist, dass man nicht alles im Voraus planen kann und die Dinge erst nach und nach entdeckt werden. Diese Entscheidung wurde erst sehr spät im Schnittraum getroffen, als wir die Texte eingefügt haben, die Ibrahim im Laufe der Dreharbeiten geschrieben hatte – eine Auswahl von Erinnerungen an Syrien, denen eine Reihe von Zukunftshoffnungen gegenübergestellt wird. Als wir das mit einbezogen, hat das unseren Schnitt sehr beeinflusst, und Ibrahim wurde sozusagen zum Protagonisten. Seine Texte hatten also einen großen Einfluss darauf, wie wir mit unserem Material umgegangen sind. Als wir den Film mit seinem Voiceover unterlegt haben, hat das einen ganz neuen Schnittprozess ausgelöst, und so fand der Film seine Perspektive und Haltung. Ich glaube, das war wirklich der Moment, in dem der Film zum Leben erwachte.
Sie behandeln den Flughafen selbst wie einen Protagonisten des Films.
Der Flughafen ist bis heute eines der größten Gebäude Berlins. Seine Ausmaße haben mir im Hinblick auf das Drehen etwas Angst bereitet. Es war, als ob man eine kleine Stadt filmen würde. Es war eine echte Herausforderung, ein Gefühl für diesen Raum zu entwickeln. Für die Innenaufnahmen bin ich zum größten Teil in den Haupthallen geblieben, wo die Menschen in Kabinen leben. Den Park habe ich als riesigen Garten betrachtet. Es war mir sehr wichtig, ein Gefühl für die Geographie dieses Ortes zu vermitteln.
Es geht in diesem Film darum, anhand der Geschichte des Flughafens zu verstehen, was in der Welt gerade vor sich geht. Die Situation in Tempelhof spiegelt die vielschichtigen historischen Widersprüche Deutschlands und die Wandlungen Berlins sehr gut wider. Der Film bezieht sich also auch auf Berlin und den Bürgersinn der Berlinerinnen und Berliner. Die Stadt hätte Tempelhof verkaufen können. Stattdessen haben die BürgerInnen um den Ort gekämpft, sie haben ihn öffentlich gehalten und sinnvoll genutzt.
Ich finde es durchaus als ironisch, dass dieser Ort, der als Grundpfeiler nationalsozialistischer Expansion und Größe konzipiert war, eines Tages in einem Film vorkommt, der auf Arabisch erzählt wird. Das zeigt, dass wir nicht Geiseln der Geschichte sein müssen. Geschichte kann verändert werden. Ich finde es faszinierend, wie ein Ort mit diesem ganzen geschichtlichen Hintergrund letzten Endes zu einer Notunterkunft für Asylanten wurde.
Sind in Ihren Film eigene Erfahrungen eingeflossen?
Als ich entscheiden musste, welche Menschen ich begleiten soll, war meine Vorgehensweise in gewisser Hinsicht von meiner eigenen Jugenderfahrung geprägt. Mir wurde auf sehr eigenartige Weise klar, dass ich eigentlich einen Film über eine Erfahrung drehe, die ich auch selbst gemacht habe. Mitte der 80er Jahre bin ich von Brasilien nach Frankreich gezogen, um bei meinem algerischen Vater zu wohnen. Weil ich Karim heiße, erwies sich Frankreich bald als Alptraum. Keiner glaubte mir, dass ich Brasilianer bin. Alle dachten, ich sei Algerier, und man erwartete von mir, dass ich mich wie ein algerischer Immigrant verhalte. Ich hatte aber keine Ahnung, wie das gehen sollte. Ich konnte nur ein Jahr in Frankreich bleiben, und schließlich habe ich mir gesagt: Weißt du was? Das reicht auch. Das Ganze fing an, mich zu ärgern. Es war unmöglich, eine Wohnung zu bekommen, alles war kompliziert.
Ihr Film erscheint zu einem Zeitpunkt, wo anscheinend keiner von Asylbewerbern hören will, einem Zeitpunkt, wo Wörter wie „Flüchtling” als unerwünscht gelten. Was hoffen Sie, wird Ihr Film bewirken?
Ich hoffe, die Art, wie Asylbewerber in Europa wahrgenommen werden, zu verändern. Ich will Einblick gewähren in die Schwierigkeiten und die wirklich harte Arbeit, die ihre Situation mit sich bringt. Auf jeden Fall ist es eines meiner größten Anliegen, Zahlen zu Menschen zu machen. Ich will zu verstehen geben, dass es sich nicht um Zahlen, sondern um menschliche Wesen handelt, die sich in einer Notfallsituation befinden. Und ich hoffe auch, dass die unglaubliche Energie dieser Menschen, die das Mittelmeer überquert haben, irgendwie im Film festgehalten wird.